Bitterstoff, Blog | Wednesday 20.07.2022

Göttliche Eingebung

Warum wir Bier aus Klöstern mögen. Sogar die Belgier

von Christoph Pinzl

Das Chaos brach endgültig aus, als Ratebeer Mitte der 2000er-Jahre das 12 zum „besten Bier der Welt“ kürte. Westvleterens Abt hatte nach dem Zweiten Weltkrieg einen kühnen, heute würde man sagen authentischen Schritt oder eher Schnitt vollzogen. Kein Bierverkauf mehr, der nicht dem direkten klösterlichen Zweck zu Gute kommt. Kein kommerzieller Vertrieb mehr, wer ein Westvleteren haben wollte, musste künftig direkt am Klostertor anklopfen. Wer Glück hatte, bekam dann ein bisserl was. Oder auch nicht. Schon für den geneigten europäischen Biernerd kein einfaches Unterfangen. Schließlich liegt die Sint-Sixtusabdij wirklich sehr weit hinten drin im flandrischen Hinterland und das lässt sich auch nicht mit einem kleinen Schlenker auf dem Weg zum Gardasee mitnehmen. Für den weit entfernt hausenden US-amerikanischen Bierfreak ein schier unerreichbarer Bierschatz, den, sollte er auf seiner weiten weiten Reise nach Europa tatsächlich den Weg in die belgische Provinz finden, er gar nicht anders als überschwänglich beerraten konnte. Die sonstige Legenden über Westvleteren sind unter Bierfans hinlänglich bekannt: die Autoschlangen vor dem Kloster, das Biertelefon, die 24 Flaschen Maximum, die Verpflichtung, keinen Schwarzmarkt zu beliefern, das bierfinanzierte Kirchendach etc. etc.

Ob das Westvleteren 12 jetzt wirklich so unglaublich besonders gut ist, sei dahingestellt. Zweifellos ist es ein Extrembeispiel für eine Bierkultur, die insbesondere die Erzeugnisse von Brauereien mit klösterlichem Background außergewöhnlich hochschätzt. Die bayerische Bierwelt kennt das ja auch, die quasi mythische Verehrung der Andechser, Scheyerner, Weihenstephaner, Weltenburger Sude und wenn sie, wie in den letzten beiden Fällen, auch noch die allerallerälteste Brautradition vorweisen können, umso besser. Selbst das mega-durchkommerzialisierte Münchner Salvator-Spekatakel profitiert noch immer vom einstigen mönchischen Flair. Selbst mit Mutter Bavaria alias Luise Kinseher am Rednerpult.

Gemälde von Eduard Grützner: Drei Mönche bei der Brotzeit

Solche Bilder prägten unsere Vorstellung von der innigen Beziehung zwischen Klosterleben und Bier (Eduard Grützner Drei Mönche bei der Brotzeit, 1885. Quelle: Wikipedia).

In Belgien scheint die Klosteraura noch eine andere Qualität erreicht zu haben. Schon Anfang der 1960er erkannten die knorrigen Trappisten die Gefahren bloßen Etikettenschwindels und ließen sich ihre Produkte mit dem ATP-Label (Authentic Trappist Product) schützen. Zu der Zeit hatten sich nämlich schon Brauriesen wie Interbrew oder Alken-Maes über die Erzeugnisse  ehemaliger Abteien wie Leffe oder Grimbergen hergemacht. Oder besser gesagt, die Kassen der Lizenzgeber klingeln lassen. Auch wenn 1998 das „Certified Belgian Abbey Beer“-Label nachfolgte, waren und sind dessen Kriterien wachsweich. Brauerei und Kloster müssen eine Geschäftsbeziehung eingehen, dem Kloster muss irgendeine Brauhistorie nachzuweisen sein und zuallererst muss die Brauerei Mitglied im Belgischen Brauereiverband sein, der das Label gehört. Na dann.

Dass das Geschäft trotzdem so prächtig funktioniert mit dem Kloster-Tarnmäntelchen hat mit Sicherheit eine Menge mit gelebter Romantik zu tun und zwar im ursprünglichen, literarischen Sinn. Eine tiefe Sehnsucht nach einem scheinbar unverfälschten Mittelalter, in dem die Natur und damit der liebe Gott das Dasein steuerte. Und keine seelenlosen Maschinen, keine multinationalen Konzerne oder dicke Bankkonten. Unverfälscht, ehrlich, dem Einfluss des Menschen entzogen, des Menschen, der sich einfach nur freuen darf an Gottes reinen Werken, in diesem Falle Werken aus dem Bierfass.

Dass diese Logik selbst dann noch funktioniert, wenn nicht mehr ganz so unverfälschte Moneymaker zum Beispiel aus dem InBev-Lager die Fäden im Hintergrund ziehen, zeigt, welche tiefe Sehnsüchte hier angesprochen werden. Sehnsüchte, die sich auch durch die wildesten Sinnverdrehereien nicht beirren lassen. So bekam beispielsweise die Brasserie Brunehaut ihr Abbey-Beer-Label, obwohl die etikettierte Abtei St. Martin schon seit knapp 200 Jahren gar nicht mehr existierte. Aber ein Naturkundemuseum existierte mittlerweile und zwar aufgebaut auf den Resten von St. Martin und das hat ja schließlich mit Geschichte zu tun,  so ein Museum. Also ein klares Ja für ein Abteibier. Oder darf die Brauerei Ter Dolen ihre Biere als Abteibiere bezeichnen, obwohl Ter Dolen zwar eigentlich kein Kloster ist, sondern ein Schloss, aber das hat mal einer Abtei gehört, jedenfalls vor ein paar hundert Jahren. Logisch. Oder darf die Huyghe-Brauerei das offizielle Bier der Abtei Averbode brauen, schließlich verwendet Huyghe ja auch Dinkel (so ein bisserl…) und der wurde im 15. Jahrhundert rund um Averbode angebaut. Wer kann das noch etwas gegen das Label „Abteibier“ haben wollen.

“Eine tiefe Sehnsucht nach einem scheinbar unverfälschten Mittelalter, in dem die Natur und damit der liebe Gott das Dasein steuerte.”

Neben diesen spaßigen geistigen Verrenkungen mag in Belgien aber auch die nicht ganz so drollige große Geschichte eine Rolle gespielt haben. Zu Zeiten der Französischen Revolution nach 1793 wurden fast alle der jahrhundertealten Abteien aufgelöst, geschliffen, nicht selten komplett zerstört. Was heute Belgien ist, war damals die von Frankreich aus gesehen feindliche Katholische Niederlande im Besitz der Österreichischen Habsburger. Nach Napoleons Waterloo 1815 ließ sich schön beobachten, wie sich in Belgien nach und nach der alte klerikale Geist zurückkämpfte und mit dem neuen nationalen Geist zusammenwuchs. Die antiklerikalen Bestrebungen der französischen Modernisten wollte man nicht mehr haben im neuen Nationalstaat Belgien, der 1830 ins Leben gerufen wurde. Da passte die Berufung auf alte klösterliche Traditionen sehr gut ins Bild. Und wenn sie dann auch noch durch den Gaumen und Magen gingen und nicht so sehr durch den Kopf, umso besser…

Und so ein Miteinander von Konfession, konstruierter Nationalstaatlichkeit und bierseliger Landeskultur kennt man ja dann in ganz ähnlicher Weise aus Bayern. Womit sich der Kreis wieder schließt.

Geschichte hin, Marketing her: Bier ist zweifellos ein göttliches Getränk. Und wo man Gott besonders nahe ist, zum Beispiel in einem Kloster, dort muss dieses Ambrosium logischerweise am besten gedeihen. Widerspruch zwecklos. Wer einmal im Frühsommer im Andechser Biergarten versumpft ist, der kann nur mehr zustimmen und genießen.