Gerät zum Drahtausziehen
Bitterstoff, Blog | Dienstag 31.10.2023

Die Philosophie des reinen Drahtes

Im Strackelziehen verbarg sich die Essenz der Hopfenarbeit

Von Christoph Pinzl

Johann Andreas Schmeller, Hallertauer Sprach-Säulenheiliger, erklärte uns im 3. Theil seines „Bayerischen Wörterbuches“ von 1836:

„Der Strackel = Knüttel, Stock, Prügel zum Stoßen, Schlagen (…) sträckeln = schlagen, stoßen, übermäßig antreiben, abmatten.“

Wer früher in den nassen, kalten Herbsttagen zum Strackelziehen in den Hopfengarten loszog, hatte nicht die Absicht, jemanden zu verprügeln. Der Geschlagene, „Abgemattete“ war er selber. Nur wenig bringt den Geist früherer Hopfenarbeit prägnanter auf den Punkt als das Ausziehen der Drähte aus den geernteten Hopfenreben. Denn um die ging es eigentlich, um die Drähte, für den Strackel, die alte Rebe, interessierte sich niemand.

Nach Einführung der Drahtgerüste ab Ende des 19. Jahrhunderts musste man dem Hopfen Jahr für Jahr neue Kletterhilfen installieren. Nachdem sich Schnüre auf Dauer nicht bewährt hatten, weil zu kompliziert zu befestigen und zu wenig stabil, ging man allmählich zum Draht über. Schwerer, verzinkter Draht, oben mit einem speziellen Haken versehen, mit dem sich dieser „Aufleitdraht“ oben am Hopfengerüst befestigen ließ. Und teuer war er dieser Draht, eine nicht unerhebliche Position in der Kostenbilanz für einen Hopfenbauern. Kein Mensch wäre auf die Idee gekommen, den Draht am Ende wegzuwerfen. Recycling war keine moralische Pflicht, sondern eine ökonomische Notwendigkeit.

Nur wer schon einmal gesehen hat, wie hartnäckig sich eine Hopfenrebe nach monatelanger Kletterei um einen Draht herumgewickelt hat, kann sich ein wenig vorstellen, was es bedeutete, den Draht wieder aus dieser Rebe rausziehen zu müssen. Anders hätte das Ganze aber auch keine Logik gehabt. Eine Rebe die leicht vom Draht rutscht, hätte ja nie die Spitze eines Hopfengartens erreicht. Also war Muskelkraft gefragt. Und Geduld.

Eine der wenigen erhaltenen Aufnahmen zum Drahtausziehen, leider etwas unscharf.

Das passende Gerät hierzu war der Strackelzieher. Eine einfache Eisenkralle mit Griff. Wer den ersten erfunden hat, weiß niemand mehr. In keinem Eisenwarenkatalog dieser Welt hat er jemals Erwähnung gefunden, kein Aufsatz zur Hopfenarbeit hat ihn je beschrieben, kein Agrar-Lehrbuch ihm ein Denkmal gesetzt. Und trotzdem gehörte der Strackelzieher in jedem Hopfenbaubetrieb zur Grundausstattung. Der ein oder andere Hopfenbauer hat seine Ausführung etwas modifiziert. Aber letzten Endes hielten sich die Anpassungen in Grenzen, die Grundform verändert sich kaum.

Was verwundert, denn die Arbeit des Strackelziehens forderte Erleichterungen geradezu heraus. Wenn man alte Hopfenbauern dazu aufforderte, in der Rückschau eine Art Rangliste der einstmals nervigsten Hopfenarbeiten aufzustellen, dann landete das Strackelziehen zuverlässig ganz oben. Das Geziehe, Gerupfe war ja nicht nur überaus anstrengend. Es war eine regelrechte Dreckarbeit. Weil etwas angetrocknete Reben ein wenig leichter rutschten als die frischen und weil das Ganze kein Termingeschäft war, fiel das Entstrackeln in die nassen, kalten Herbstmonate, wenn die anderen Arbeiten schon abgeschlossen waren. Und wenn dann die Rebe endlich herunten war, galt es spezielle Techniken zu entwickeln, damit sich die vielen mittlerweile mehrfach verbogenen Drähte nicht heillos ineinander verwickelten. Man wollte sie ja wiederverwenden. Als besondere Dreingabe zum Aufregen empfahl sich der Drahthaken am oberen Ende, dessen ureigenstes Wesen es ja gerade war, sich an irgendwelchen Drähten festzuhakeln und während der Drahtarbeit somit auch intensiv an den Nerven der Hopfenbauern herumzuzerren. Als es im Depot des Deutschen Hopfenmuseums einst galt, mehrere übereinandergeworfene Drahtrollen samt Haken wieder auseinander zu dröseln, war glücklicherweise niemand anwesend, der die unzähligen zum Himmel gesandten Flüche mitbekommen hätte.

Eine Rolle mit Aufleitdraht und Drahthaken.

Nichts repräsentiert die Ökonomie des bäuerlichen Hopfenbaus früherer Zeiten besser als dieser Arbeitsgang. All das Geschimpfe und Gewerkel spielten keine Rolle. Dahinter verbarg sich nicht nur Sparsamkeit. Der heutzutage so huldvoll beschworene Geist der Nachhaltigkeit steckte in jedem ausgezogenen Draht, in jeder gewickelten Drahtrolle, in jedem Drahtbündel, das man im Frühjahr wieder abrollte und von neuem im Hopfengarten montierte. Der Hopfenbau dieser Zeit zeichnete sich ja gerade dadurch aus, dass er zwar einerseits in die anonymen Märkte internationaler Warengeschäfte und ihrer Kapitalflüsse verflochten war, aber andererseits fest im konservativen Geist des bäuerlichen Wirtschaftens ablief. Wer Strackel zog, war dem Mittelalter näher als der modernen Marktwirtschaft.

Nicht wenige Bauern dachten sich Speziallösungen aus. Pferdekraft kam zum Einsatz, spezielle Montagen an den Gerüstsäulen, Mehrfachauszüge. Findige Schlosser bauten Apparate mit umlaufenden Messer und Handkurbeln. In den 1950ern tauchten sogar motorbetriebene Strackelziehermaschinen auf, zum Antrieb an der Schlepper-Zapfwelle. Im Hopfenmuseum hat sich ein letztes Exemplar erhalten. Viel Verbreitung fanden diese Geräte aber nicht. Zu teuer, zu unzuverlässig, zu aufwändig, zu neumodisch. Die meisten Bauern blieben beim Hand-Strackelziehen.

Bis die Pflückmaschine kam. Dann war sofort Schluss. Denn in der neuen Erntetechnik hatte ein verzinkter Draht mit Haken keinen Platz mehr. Der ramponierte die sensiblen Pflückfinger der teuren Pflückmaschine und einmal versehentlich um die Pflücktrommel gewickelt, konnte er die Erntearbeit für Stunden blockieren. In der Hektik der Erntearbeit nicht mehr tragbar.

„Famos“ hieß dieses Gerät zum Drahtausziehen der Metallwarenfabrik Reichertshofen, am Rand der Hallertau. Ob es auch famos funktionierte, ist nicht bekannt.

Und so war plötzlich Schluss mit nachhaltig, Schluss mit Mehrfachnutzung und bäuerlicher Sparsamkeit. An Stelle des verzinkten trat der dünnere Schwarzdraht, an Stelle des Strackelziehers der Rebenhäcksler. Der hackte alles kurz und klein, egal ob Rebe oder Draht und anschließend landete das Ganze nun im Erdreich des Hopfengartens. Oder auf der Landstraße, zur besonderen Freude von Auto- und Motorradfahrern. „Hopfenspikes“ und ihr Talent zum Reifentöten sind bis heute ein bewährter Aufreger in der herbstlichen Tagespresse der Hopfenregionen.

Warum dann nicht wieder zurück zum Drahtausziehen? Auf so eine Idee käme heute nicht einmal ein Hobby-Bio-Hopfenbauer. Selbst wenn sich irgendwo jemand fände, der sich so einer Arbeit annähme und sei es mit noch so viel maschineller Unterstützung: wer soll das bezahlen? Wer will es überhaupt bezahlen? Kein Hopfenbauer, kein Hopfenhändler, kein Brauer, kein Biertrinker. Ökologie ist halt vor allem auch eine Funktion von Wirtschaftlichkeit.

Zu zweit arbeitete es sich etwas leichter.

Eventuell wäre das Strackelziehen ja mal eine pfiffige Idee für ein Touristikevent in den Spätsommermonaten. Wer am meisten schafft, erhält einen Pokal und steht anschließend in der Zeitung und den sozialen Medien. In der Art. Dazu bräuchte es zwar noch etwas mehr Tourismus in den Hopfenregionen, aber der ließe sich ja vielleicht dadurch steigern. Vermutlich fände aber auch heute als sportive Freizeitaction das Strackelziehen wenig Freunde. Das Märchen von der guten alten Zeit war in den Hopfengebieten noch nie besonders populär. Insofern ist das alles eigentlich sehr authentisch. Und damit wieder voll im Trend.