Bitterstoff, Blog | Monday 27.06.2022

Jäger des verlorenen Spagats

Oder: Auf der Suche nach dem verschwundenen Werferl

von Christoph Pinzl

Spagat hat beim Hopfen wenig mit elastischen Hüftgelenken zu tun. Eher mit verspannter Nackenmuskulatur. Spagat nannten die Hopfenbauern, jedenfalls die in der Hallertau, eine bestimmte Art von Schnur. An dieser Schnur wuchs ab Ende des 19. Jahrhunderts jede einzelne Hopfenrebe nach oben. Eine Begleiterscheinung des epochalen Wechsels von den jahrhundertelang gebräuchlichen Hopfenstangen zum modernen Hopfengerüst. Warum alle (Hopfen-)Welt immer „Spagat“ sagte und nicht „Schnur“, meintewegen auch „Hopfenschnur“ oder „Hopfenseil“, weiß keiner. Auch wenn Johann Andreas Schmeller in seinem Bayerischen Wörterbuch von 1836 den Spagat als „Bindfaden, wol aus dem ital. spaghetto“ darstellte. Üblich war „Spagat“ statt „Schnur“ nur in Hopfengegenden.

Hopfenbauer beim Spagatwerfen

Sehr lässig: Jedes Werferl ein Unikat. Jeder Werfer auch.

Größte Herausforderung beim Hopfen-Spagat war seine Montage ans Hopfengerüst. Auch wenn das normale Gerüst um 1900 noch eher mit sechs statt acht Metern Höhe aufgebaut war: Leitern anlegen kam technisch nicht in Frage. Stelzenakrobatik wie im angelsächsischen Hopfenbau üblich, war in Deutschland nie ein Thema. Für Bühnen, Kanzeln, Hebekörbe, am Traktor oder Wagen angebaut, war die Zeit noch zu früh.

Hopfenbauern – und es waren tatsächlich meistens die Männer – lösten das Problem sportlich: Man(n) warf. Konkret: ein Spagatmesser, semantisch nachvollziehbar gerne auch als Spagatwerferl bezeichnet. Messer deshalb, weil sich irgendwo am Gerät eine Schneide befand, mit der sich die neu verlegte Spagatschnur fachmännisch ablängen ließ. Werferl deshalb, weil man eben tatsächlich etwas herumwarf, schmiss, schleuderte, je nach individueller Technik. Dieses etwas, das Werferl, unterlag in gleicher Weise individuellen Designvorstellungen. Meist eher länglich, aber auch kreisrund anzutreffen, mal knapp daumenlang, ein anderes doppelt handtellergroß, die Schneide kerzengerade, konisch, halbmondförmig gebogen, breit oder abgeflacht. Wie es dem jeweiligen Handhaber halt gerade als möglichst angenehm und effizient erschien. Als in einer Regalecke unseres Museumsdepots vor einiger Zeit ein einzelnes sauber geputztes Hufeisen auftauchte, konnte ich mit Hilfe alter Inventarlisten herausfinden, dass es sich dabei nicht um etwas für Pferde, sondern um ein Spagatwerferl handelte. Typisch Hopfenbau eben. Standardisiert wurde anderswo.

„Der Spaget (Spáged), Bindfaden, wol aus dem ital. spaghetto“

Johann Andreas Schmeller, Bayerisches Wörterbuch, 1836.

Auch wenn technisch und vom Instrument her ein ausgeprägtes Stilbewusstsein bei den Hopfenbauern vorherrschte: die zentrale Aufgabenstellung blieb letztlich unangetastet. Der ins Spagatmesser einklemmte, eingebundene Spagat, die Schnur eben, musste irgendwie oben über den Laufdraht des Gerüstes drüber. Und zwar möglichst exakt. Also nicht über zwei oder drei oder sonstwieviele Laufdrähte, nicht um die bereits verlegte Nachbarschnur, nicht zu weit, nicht zu kurz. Beim optimalen Wurf landete das Spagatmesser samt eingezwickter Schnur wieder in der Hand des Werfers. Der zog die Schnur aus dem Werferl, schnitt sie passgenau vom Schnurknäuel und band sie mit einem fachgerechten Schleifknoten um den vorher eingesteckten Holzpflock im Hopfengartenboden. Nun war´s an der Hopfenrebe, die folgenden Wochen dort nach oben zu wachsen.

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Die Hanfwerke Füssen-Immenstadt waren lange Zeit der wichtigste Lieferant für Hopfenspagat

So weit so theoretisch. Dass einer solchen Technik eine gewisse Geübtheit nicht schaden konnte, ist eine Untertreibung. Zum nötigen Zielwasser kam das stundenlange Nach-oben-Starren, es sei an die verspannten Nackenmuskeln erinnert. Überanstrengte Augen mussten ununterbrochen vom Fokus ins grelle Sonnenlicht – Spagatmesser fliegt über den Laufdraht – auf das Dunkelbraun des Ackerbodens – Spagatmesser fällt wieder runter – hin- und herpendeln. Nicht wenige Hopfenbauern hatten auch nach dem hundersten Spagatschnürl den Kniff nicht richtig raus. Und vergaben entnervt die ganze Aufgabe an Lohnarbeiter, die auch noch mit verbundenen Augen und einhändig die Aufgabe locker meisterten. Ein Sport von baseballartiger Präzision. Es soll in der Hallertau sogar einmal überörtliche Meisterschaften im Spagatwerfen gegeben haben, auch wenn ich bisher keine konkrete Notiz hierzu finden konnte.

“Spagat hat beim Hopfen wenig mit elastischen Hüftgelenken zu tun. Eher mit verspannter Nackenmuskulatur.”

Aber egal ob Wurfmeister oder ewiger Anfänger: wer die Konzentration schleifen ließ – und es gab schon in den 1920er Jahren Bauernhöfe mit Tausenden von Hopfenstöcken – lebte gefährlich. Weil ihm das eiserne Werferl entweder unfreiwillig auf dem Kopf landete – Hut oder Mütze waren für jeden Werfer nicht nur wegen der Sonne Pflicht. Oder weil er sich an der Werferlschneide die Hand aufschnitt. Oder aber, weil das eigensinnige Spagatmesser sich während seines Fluges kurzerhand der lästigen Schnur entledigte und einfach irgendwo landete. Auf Nimmerwiedersehen.

Spagatmesser

Nach 60 Jahren wieder ans Tageslicht gekommen. Im Rost überdauert die Aura der Dinge.

Das abgebildete Spagatmesser ging in den 1920ern in einem Hopfengarten bei Uttenhofen in der Hallertau auf diese Weise verloren. Auch stundenlanges Suchen – es handelte sich schließlich um ein wertvolles, maßgeschmiedetes Werkzeug – half nichts. Weg war´s. Erst 60 Jahre später gab es der Hopfengarten wieder frei. Der einstige Unglückswerfer war da schon längst verstorben. Sein Sohn zog es bei der Frühjahrsarbeit aus dem Erdreich. Natürlich hat der Zahn der Zeit seine Rostspuren hinterlassen. Und zweifellos gibt es gepflegtere Exemplare zum Ausstellen in einem Hopfenmuseum. Aber welches andere Spagatmesser kann heute die Essenz der Herausforderungen, mit denen sich die Hopfenbauern einst beim Spagataufhängen herumschlagen mussten, so ausdrucksstark zum Vorschein bringen.

Für mich eines der schönsten Stücke in unserer Museumssammlung.