Bitterstoff, Blog | Mittwoch 11.12.2024

Hopfenfahrer aus Isernhagen

Nördlich von Hannover lag einst ein Zentrum des Hopfenhandels

Von Christoph Pinzl

Schon die Aufteilung Isernhagens ist ein bisserl speziell. Eigentlich gibt es „den“ Ort Isernhagen gar nicht. Die Gemeinde mit diesem Namen besteht aus sieben Ortschaften, die alle ein gutes Stück auseinanderliegen. Deren Ortsschilder tragen eigenwillige Namen wie Isernhagen KB, Isernhagen NB, FB oder HB. Die Abkürzungen stehen für Kircher, Niedernhägener, Farster und Hohenhorster Bauernschaft. Was wiederum darauf hinweist, dass es sich seit langem um Ansammlungen von recht verstreut liegenden Bauernhöfen handelt.

Was die Bauernschaften und die übrigen Isernhagener Dörfer lange Zeit vereinte, war der Hopfen. Weniger der Anbau. Der war hier im Norden von Hannover nie besonders heimisch. Aber der Handel mit Hopfen. Und die Lagerung von Hopfen. Und der Transport. Alles zusammen. Heute würde man so etwas Hopfen-Logistik nennen.

Postkarte aus Isernhagen, um 1950.

Es lässt sich nicht mehr herausfinden, was zuerst da war: Transportieren, Lagern oder Verkaufen. Der Name, den die Isernhagener Hopfenlogistiker führten, lässt vermuten, dass zuerst die Mobilität ins Spiel kam: Hopfenfahrer. Ihr Weg führte sie nicht selten hunderte Kilometer weit weg von zuhaus, meistens Richtung Osten und Nordosten, überall dorthin, wo guter Hopfen wuchs. Ins Braunschweigische Land, wo der Hopfen eine regelrechte Anbau-Hysterie ausgelöst hatte, ins Wendland rund um Lüchow und Dannenberg, in die Altmark rund um Gardelegen und sogar bis in die sächsischen Hopfengegenden. Überall dort kauften die Isernhagener den Hopfen auf. Anschließend transportierten sie ihn zuerst einmal in die Heimat, nach Isernhagen und lagerten ihn dort eine gewisse Zeit ein. Erst zum gegebenen Zeitpunkt fuhren sie ihn dann dorthin, wo man gute Preise bezahlte. Bisweilen wieder weite Strecken, wenn nötig auch sehr weite und logischerweise eher in die andere Richtung, nach Bremen, Hamburg, Holstein und sogar ins ferne Dänemark bis nach Kopenhagen. In Flensburg und im dänischen Randers hatten sie deshalb auch eigene Stapelplätze für ihre Ware gepachtet.

Hopfenspeicher in Isernhagen, Am Ortfelde, der lange als Privatwohnung genutzt wurde, Aufnahme 2023.

Dass wir heute überhaupt noch Genaueres über sie wissen, haben wir dem früheren Isernhagener Lehrer Kurt Griemsmann zu verdanken. Der kannte die Nachfahren der letzten Hopfenfahrer noch persönlich und ließ sich von Ihnen alte Dokumente zeigen wie Abrechnungs- oder Tagebücher. Vermutlich auch noch manches mehr, von dem aber heute aber leider nichts mehr zu finden ist. Griemsmann veröffentlichte nämlich Mitte der 1950er Jahre zuerst einen Aufsatz und 1973 in seiner Heimatchronik zu Isernhagen dann noch einmal ein längeres Kapitel zur Geschichte der Hopfenfahrer. Dort ließen sich zahlreiche Details nachlesen, deren Quellenherkunft Griemsmann jedoch einfach als „privat“ angab. Die eine oder andere Quelle lässt sich heute noch in Archiven aufspüren, aber bei vielem aus der Feder des Heimatforschers muss man ihm einfach nur vertrauen.

Wann genau die Isernhagener mit dem Hopfengeschäft begannen, dazu weiß auch er keine Antwort. Der älteste Beleg stammt von 1447. Um 1700 waren um die 50 Hofstellen mit dem Hopfenfahren beschäftigt, wohlgemerkt in einem Ort, der nur aus ein paar Bauernschaften bestand.

Hopfenspeicher in Isernhagen, erbaut 1586, Aufnahme um 1930. Das Gebäude existiert heute nicht mehr.

Nun wären die Aktivitäten der Isernhagener Hopfenfahrer schon interessant genug gewesen. Was sie für den geneigten Hopfenhistoriker heute so besonders macht, ist die Tatsache, dass sie markante Spuren in der Landschaft hinterlassen haben, die heute noch zu sehen sind. Teilweise direkt neben der Hauptstraße. Dabei handelt es sich um sogenannte Hopfenspeicher, im Fachwerkstil erbaute Gebäude, von denen die ältesten auf die Zeit um 1550 zurückgehen. Auch wenn keiner der Speicher erwartungsgemäß mehr im Originalzustand dasteht, hat sich wenigstens das Äußere oft noch recht authentisch erhalten. Jedenfalls bis vor ein paar Jahren. Der bekannteste Vertreter beherbergte lange Zeit eine Lokalität, die passenderweise den Namen „Hopfenspeicher“ trug. Mittlerweile gibt es das Gasthaus leider nicht mehr und die alte Fassade musste einen etwas unpassenden neuen Anstrich über sich ergehen lassen. Aber immerhin. Zwei andere Hopfenspeicher stehen etwas versteckt auf Privatgrund und werden als Wohnraum genutzt. Und einer ist nur deswegen noch am Leben, weil eine heimatverbundene Familie aus Isernhagen viel Geld in die Hand nahm und den vom Abbruch bedrohten Speicher kurzerhand originalgetreu in den eigenen Garten verfrachten ließ. Wie im Freilichtmuseum. „Translozieren“ im Fachjargon genannt. Weil die örtliche Denkmalpflege auf so viel Heimatliebe aber nicht einfach nur begeistert reagierte, sondern glaubte, der Familie mit diversen Auflagen unter die Arme greifen zu müssen, steht der Speicher nun einfach leer im Garten herum und kann nicht als Wohnraum genutzt werden. Aber das ist eine andere Geschichte.

Hopfenspeicher „Eilers-Bätke“, erbaut 1563, links 1997 am ehemaligen Standort, rechts neu aufgebaut in einem Privatgrundstück 2023.

Was nun eigentlich genau in diesen Speichern passiert ist, lässt sich heute trotz aller erhaltenen Gebäude nicht mehr exakt rekonstruieren. Man hat wohl Hopfen eingelagert, so viel steht fest. Aber wie? Und wie lange? Hopfen ist bekanntlich ein recht empfindliches Pflänzlein, monatelanges Lagern in Zeiten, als es weder Pellets noch Extrakt gab, steigerte nicht unbedingt seinen Wert. Weshalb dann das Ganze? Weil Hopfenhändler halt schon immer auch Spekulanten waren, die wie an der Börse auf die Hopfenkonjunktur achteten, Angebot und Nachfrage genau beäugten und erst dann zuschlugen, wenn die Zeit reif war? Oder um einfach den Hopfenmarkt besser kontrollieren, Kunden zeitgenau beliefern, Einkauf und Verkauf besser voneinander trennen zu können? Mag sein. Aber warum die relativ hohe, immer zweistöckige Bauweise der Speicher? Schwere Hopfensäcke in den ersten Stock zu befördern war mühsam. Gegen Feuchtigkeit hätte auch ein leicht erhöhter Bretterboden im Erdgeschoss geholfen, wo wiederum die wertvolle Hopfenware nicht so stark der Hitze unterm Dach ausgesetzt gewesen wäre. Und worin unterschied sich ein Hopfenspeicher von einem, in dem Getreide gelagert wurde? Gab es überhaupt einen Unterschied oder war ein Hopfenspeicher einfach ein Speichergebäude, in dem Hopfen lagerte? Ohne große bauliche Unterschiede?

Hopfenspeicher von innen, Aufnahme von 2023.

Wohnen im Hopfenspeicher, 1997. Die Wohnung existiert heute nicht mehr.

Das alles wissen wir nicht. Und werden es wohl auch nicht mehr erfahren. Mit ziemlicher Sicherheit lässt sich sagen, dass das Hopfengeschäft lukrativ war und einigen Wohlstand nach Isernhagen brachte. Um 1740 fiel das Steueraufkommen eines Hopfenfahrers doppelt so hoch aus wie das der besten Handwerksbetriebe vor Ort. Überall wusste man märchenhafte Geschichten zu erzählen wie die von den Erben eines Isernhagener Hopfenfahrers, die sich nach seinem Tod erstmal drei Tage lang einschlossen, um in Ruhe das viele hinterlassene Geld zählen zu können. Noch heute fallen die zahlreichen prachtvollen Hofgebäude auf, die sich mit Jahreszahlen seit dem 17. Jahrhundert schmücken. Isernhagen wirkt stellenweise tatsächlich wie ein bewohntes Freilichtmuseum. Griemsmann ging so weit, den ganzen Häuserreichtum Isernhagens auf das einstige Hopfengeschäft zurückführen zu wollen. Eine reizvolle Argumentation, die sich allerdings nicht belegen lässt.

Altes Bauernhaus in der Isernhagener Dorfstraße.

Gute Geschäfte machten die Isernhagener aber auf alle Fälle. Was auch gewisse Begehrlichkeiten wecken konnte. Wie häufig bei fahrenden Hopfenhändlern, die auf der Rückreise zwangsläufig einiges an Barschaft mit sich führten. Die Chronik enthält viele Geschichten über brenzlige Situationen mit Wegelagerern, in denen entweder nur der treue Schäferhund, der Zufall oder das pure Glück die Rettung brachten. Nicht zuletzt auch, um solchen Gefahren vorzubeugen, verlegten sich viele Hopfenfahrer darauf, das eingenommene Hopfengeld in der Fremde gleich wieder zu reinvestieren, zum Beispiel in den Einkauf von Pferden oder Wolle, die man zurück nach Isernhagen brachte, um sie dann zuhause erneut gewinnbringend an den Kunden zu bringen. „Hinfracht und Herfracht –  das bringt Geld“ lautete der markante Slogan.

Jahrhundertelang scheinen die Hopfenfahrer gut mit ihrem Geschäftsmodell gelebt zu haben. Doch das Zeitalter der Industrialisierung im 19. Jahrhundert brachte dann das Ende. Die Zentren des deutschen Hopfenbaus hatten sich mittlerweile ins ferne Bayern, nach Spalt, Hersbruck und in die Hallertau verlagert. Die Hotspots des Hopfenhandels hießen nun Nürnberg, Bamberg und Fürth, wo man das Hopfengeschäft in einer ganz anderen Größenordnung aufzog, als es die Isernhagener je vermocht hätten. Und das Transportmittel der Zukunft hieß Eisenbahn, deutlich schneller, sicherer und leistungsfähiger als die Pferdefuhrwerke der Hopfenfahrer.

Hopfenspeicher in Isernhagen, Asphalweg, erbaut 1. Hälfte 17. Jh, Aufnahme 2023.

Die letzten ihrer Zunft hingen das Hopfenfahren um 1850 an den Nagel. Einer ihrer Nachkommen, Wilhelm Dusche, dessen Familie seit Generationen den Hopfenhandel betrieben hatte, schaffte es später sogar in den Deutschen Reichstag. In seiner Familie verwahrte man auch die letzten Spuren zur langen Geschichte der Isernhagener Hopfenfahrer, ohne die wir heute so gut wie nichts mehr von ihnen wüssten.

Hopfenspeicher in Isernhagen, erbaut 1709, links 1997 noch als gleichnamiges Restaurant, rechts im heutigen Zustand.